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Anliegerbeiträge für 30 Jahre alte Kläranlage

Borken. Deutschland ist europaweit führend in der Umsetzung der EU-Abwasserrichtlinie aus dem Jahre 1991. Die Stadt Borken hat in den vergangenen Jahren die EU-Bestimmungen weitestgehend umgesetzt und Gebäude in allen Stadteilen an Kläranlagen angeschlossen. Die Kosten dafür werden in Form von Schaffensbeiträgen an die Hauseigentümer weitergegeben. 1978, lange vor der EU-Richtlinie, wurde die Kläranlage Trockenerfurth fertiggestellt. Wie die Interessenvertretung Klärwerk e.V. mitteilt, sollen nun, 30 Jahre später, alle Hauseigentümer in Dillich, Haarhausen, Nassenerfurth und Trockenerfurth durch einen Trick nachträglich an den Kosten beteiligt werden.

Entwässerungssatzung regelt Beteiligung der Hauseigentümer
Nach der Borkener Entwässerungssatzung (EWS) sind die Gesamtkosten der Anschlussmaßnahmen nachzuweisen und durch die Gesamtfläche der anzuschließenden Ortslagen zu teilen. Auf diese Weise wird der Beitrag ermittelt, der für jeden Quadratmeter eines angeschlossenen Grundstückes zu entrichten ist. Bei der Flächenbilanz ist es unerheblich wie eine Fläche genutzt und ob sie jemals an eine Kläranlage angeschlossen wird. Für die Kosten sind nur geprüfte Verwendungsnachweise maßgebend. Je nach Geschosszahl und Bebauungsplan, werden unterschiedliche Beträge erhoben.

Kläranlage Borken-Trockenerfurth entzweit Bürger und Stadt
1978 wurde die Kläranlage Trockenerfurth fertiggestellt. Sie reinigt seitdem die Abwässer der Stadtteile Dillich, Haarhausen, Trockenerfurth und Nassenerfurth. Die Nachbargemeinde Neuental leitet außerdem ein. Nach Kommunalrecht gilt eine  Baumaßnahme vier Jahre nach Beendigung als abgeschlossen. Seit 1982 wäre sie also nicht mehr veranlagungsfähig.

Der Stolzenbach-Trick
Inzwischen hat Borken in Gombeth eine modernere und größere zweite Kläranlage. Dort reinigen alle anderen Stadtteile ihr Wasser. Eine Stichleitung bis Pfaffenhausen sollte auch den Stadtteil Stolzenbach dort anbinden. Die Stadt hat dafür 153.000 Euro Kosten ermittelt. Für 310.000 Euro mehr, also 463.000 Euro, habe man Stolzenbach jedoch an die alte Kläranlage in Trockenerfurth angeschlossen, wie die Interessenvertretung Klärwerk (IvK) mitteilt. Für die Stadt rechne sich dieser Mehraufwand: Auf diese Weise werde die 30 Jahre alte Anlage jetzt erst „fertiggestellt“ und damit die Grundlage geschaffen, alle Hauseigentümer in Dillich, Haarhausen, Nassenerfurth und Trockenerfurth nachträglich an den Kosten zu beteiligen.

Nach 30 Jahren keine Belege mehr
Die Stadt gebe die Baukosten mit 3,34 Millionen Euro an, könne bisher aber nur einen einzigen unterschriebenen und geprüften Verwendungsnachweis dafür vorlegen. Dieser belege mit 282.000 Euro nicht einmal zehn Prozent der Gesamtsumme. Der Rest wäre aber hinfällig für die Berechnung der Schaffensbeiträge, so die IvK. Für insgesamt acht Bauabschnitte fehlten drei Verwendungsnachweise komplett.

Verein vertritt Interessen der Bürger und rechnet anders
Die frisch gegründete Interessenvertretung Klärwerk e.V. ist mit 209 Mitgliedern auf Anhieb Borkens zweitgrößter Verein. 700 Bescheide wurden von der Stadt verschickt. Für 250 wurden inzwischen Widersprüche eingereicht. Die Interessenvertretung rechnet nach: Selbst wenn ungeprüfte Verwendungsnachweise anerkannt werden, bestehen zwischen Ihnen und den Baukosten Differenzen über 900.731 Euro bei den Kosten und 79.360 Euro bei den abzuziehenden Zuschüssen.

Dabei sei unsicher, ob alle möglichen Zuschüsse überhaupt beantragt wurden. Möglicherweise habe sich die PREAG an den Kosten beteiligt. Und einige ehemalige Magistratsmitglieder meinen sich sogar an einen Fertigstellungsbeschluss aus dem Jahre 1988 erinnern zu können, der jede Abrechnung heute nichtig machen würde. 30 Jahre lang müssen Belege und Dokumente aber nicht aufbewahrt werden. Vieles wird daher nie mehr zu klären sein.

Nicht alle Flächen berücksichtigt
Die Höhe der Schaffensbeiträge ist abhängig von der Gesamtfläche. Je geringer diese angenommen wird, desto höher wird der Betrag je Quadratmeter. Die Stadt, so die IvK, habe über zehn Prozent der Flächen erst gar nicht einbezogen. Statt über 1,14 Millionen Quadratmeter seien weniger als 1,12 Millionen Quadratmeter zugrunde gelegt worden. 129.515 Quadratmeter zu wenig. Begründung: Nicht anschließbare Flächen. Mehrbelastung für die Anlieger dadurch: 163.513 Euro. Die EWS kenne aber gar keine „nicht-anschließbaren“ Flächen.

Zu diesen unberücksichtigten Flächen zählen vor allem Gemeindegrundstücke: Mit dem Sportplatz Trockenerfurth sei das direkte Nachbargrundstück zur Kläranlage, also das mit dem nachweislich kürzesten Weg, angeblich nicht anschließbar. Ebenso der Sportplatz in Dillich mit dem großen Gebäude der Schießanlage. Der Sportplatz in Nassenernfurth sei anschließbar, dafür eine große Wiese nebenan nicht. Gleichfalls in Nassenerfurth sei mit dem Hofgarten eines der größten Grundstücke nicht berücksichtigt, obwohl an allen vier Seiten die angrenzenden Grundstücke erfasst seien. In Dillich bleibt eine Wiese der Firma Rodi als „außerörtlich“ unberücksichtigt. Sie ist aber von drei Seiten durch berücksichtigte, bebaute Grundstücke eingeschlossen. Weitere Flächen seien aus ähnlichen Gründen nicht berücksichtigt.

Kuriosum der EWS
Die Interessenvertretung klagt: „Dort wo kein Bebauungsplan existiert, werden die Gebäude grundsätzlich eingeschossig, also mit einem niedrigeren Betrag veranlagt, selbst wenn sie mehrgeschossig ausgeführt sind. Gibt es hingegen einen Bebauungsplan, der mehrgeschossige Bebauung zulässt, werden auch Gebäude zweigeschossig – also höher – veranlagt, wenn sie nur eingeschossig gebaut sind. Ein willkürlicher Verstoß gegen das verfassungsmäßige Gleichbehandlungsprinzip. Die Rechtsgrundlage für Beitragsbescheide darf nicht geschätzt werden, sondern ist exakt festzustellen.“

Soziale Härten entstehen
Mit der Ausklammerung von Flächen und falscher Kostenberechnung müssen Rentner und Hartz IV Empfänger aber für die „sportlichen Ambitionen“ der Stadt mit bezahlen. Insgesamt, so rechnet der Verein vor, beträgt die Überdeckung aus nicht nachgewiesenen Kosten und falschen Flächenzahlen, mindestens 1,14 Millionen Euro. Bei 700 Bescheiden zwischen 200 Euro und 13.000 Euro, müssten diese bei korrekter Berechnung um mindestens ein Drittel niedriger ausfallen.

Wenig Fingerspitzengefühl
Mit dem Eintreiben der umstrittenen Bescheide sei die Stadt nicht zimperlich gewesen. Einer 80-jährigen Frau sei ein Mahnverfahren angedroht worden, obwohl sie laut Grundbuch gar nicht mehr Eigentümerin ist. Hartz IV Empfänger, die froh sind, ihr Häuschen überhaupt behalten zu dürfen, werden nach IvK-Aussage mit der zitierten Begründung von Bürgermeister Bernd Heßler (SPD), es gäbe Banken in Borken, in die Zahlungsunfähigkeit getrieben. Arbeitslose und Sozialhilfeempfänger erhalten nämlich keine Kredite.

Klage ist vorbereitet
„Alle außergerichtlichen Einigungsversuche sind gescheitert. Lenkt die Stadt nicht noch ein“, so der Vorsitzende der Interessenvertretung Klärwerk e.V., Bernd Zuschlag (Nassenerfurth), „wird der Verein über die Kasseler Anwältin Ingeborg Angermann eine Musterklage einreichen.“

Thema ist hochaktuell
Nicht nur in den Borkener Stadtteilen, die an die neue Kläranlage Gombeth angeschlossen sind und noch höhere Beiträge zahlen sollen, regt sich ebenfalls Protest. Inzwischen, so der Verein, erhalte man Anfragen aus Knüllwald, Neuental oder Steffenberg (Marburg-Biedenkopf). In Sinntal (Main-Kinzig-Kreis) habe eine Bürgerinitiative bereits erfolgreich gegen die Kommune geklagt. In vielen anderen Gemeinden werden Einzelverfahren gegen die Kommunen geführt. Die Heranziehung der Bürger zu den Kosten neben den Gebühren und Steuern habe eine zumutbare Grenze erreicht.