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250. Gründungstag der IHK Kassel-Marburg

Interview mit Horst-Dieter Jordan über die Wochen nach dem Fall der Mauer 1989

ihk130304Kassel. In dieser Woche ist es so weit: Am Freitag, 8. März, jährt sich der Gründungstag der Industrie- und Handelskammer Kassel-Marburg zum 250. Mal. In der jüngeren Vergangenheit hat sich besonders ein Ereignis positiv auf die Entwicklung der Region ausgewirkt: die Öffnung der innerdeutschen Grenze und in deren Folge die Wiedervereinigung. Nordhessen und der Altkreis Marburg rückten quasi über Nacht vom Zonenrandgebiet zurück in die Mitte Deutschlands und Europas. Der damalige IHK-Vizepräsident Horst-Dieter Jordan (W. & L. Jordan GmbH, Kassel) erinnert sich. 

Als sich die innerdeutsche Grenze nach dem Fall der Mauer 1989 öffnete, war der Unternehmer Horst-Dieter Jordan IHK-Vizepräsident. Unter anderem half der gebürtige Niederzwehrener mit, die IHK Erfurt aufzubauen. Ein Rückblick auf die Zeitenwende, die den IHK-Bezirk vom Zonenrand in die Mitte Deutschlands rückte.

Wie haben Sie den Fall der Mauer 1989 und die Öffnung der Grenze erlebt?
Jordan: Durch das Telefon erfuhr ich von den Menschenströmen, die von Thüringen nach Kassel kamen und die Straßen füllten. In den Geschäften lagen Angebote aus, die für uns selbstverständlich waren – für unsere Landsleute jedoch etwas bisher Unerreichtes darstellten. Bewusst bin ich dann mit einem unauffälligen Auto in die Stadt gefahren. In mir war ein großes Verständnis für die Situation, in die nun unsere Landsleute aus Thüringen gekommen waren. Mit der staunenden Menge wurde mir klar, dass nun wohl ein neuer Zeitabschnitt beginnt. Die nächsten Jahre sollten mit dem Aufbau eines Marktes in den neuen Ländern für mich die spannendste Zeit meines beruflichen Lebens werden.

Das lag sicher auch daran, dass Ihr Unternehmen unmittelbar nach der Grenzöffnung wieder Kontakte nach Thüringen aufgenommen hat, die durch die deutsche Teilung gekappt worden waren.
Jordan: Thüringen war mir von Kindheit an als leistungsfähiger Holzlieferant bekannt – mit sympathischen Menschen, mit denen meine Eltern bereits enge Kontakte von früher her unterhielten. Dr. Walter Giesler, der damalige Hauptgeschäftsführer unserer Kammer, die zwischenzeitlich IHK Kassel-Mühlhausen hieß, nahm Kontaktgespräche zu unbekannten Menschen der Thüringer Wirtschaft auf. Ich habe mich als Vizepräsident der Kammer angeschlossen. Ein erstes Gespräch fand im Hause „Rat des Kreises“ statt. Der dortige Vorsitzende, natürlich ein SED-Mann, hatte die Zeichen der Zeit erkannt und stand diesen hessisch-thüringischen Gesprächen sehr wohlwollend und aufgeschlossen gegenüber. Er beseitigte sogar als Erster die Grenzpfosten. Circa 30 zumeist früher selbstständige Kaufleute und Meister der verschiedenen Branchen waren mit uns mehrere Stunden zusammen, erläuterten uns ihre Situation und zeigten alte Visitenkarten vor, deren Nutzung zu DDR-Zeiten vom Staat unerwünscht war. Ein eifriger Adressenaustausch begann, und die Voraussetzungen wurden geschaffen, um Bindungen zwischen den noch vorhandenen und ehemaligen kleineren Wirtschaftsunternehmen Thüringens und Nordhessens herzustellen. Für den Vorsitzenden des Rates war eine solche Offenheit ein Novum. Er zeigte sich sehr kooperativ und schaffte die Voraussetzungen zu kurzfristigen Warenlieferungen.

Wie schwierig war es, Kontakte zu potenziellen Geschäftspartnern aufzunehmen?
Jordan: Eigentlich lief alles relativ leicht und wenig formalisiert ab, wenn man etwas Mut, viel Engagement für die Zusammenarbeit und vor allen Dingen ein offenes Ohr und Verständnis für die Probleme der Menschen im Osten aufbrachte. Immerhin sollten es Partner werden, denen die Erfahrungen einer freien Wirtschaft – die wir damals in etwa 40 Jahren gemacht hatten – fremd waren. Wir schrieben die uns bekannten Adressen an, stellten uns vor, und ich entwarf das Thüringen-Konzept als Grundlage für diese ganz besonderen, neuen Beziehungen: Gleichbehandlung mit unseren westlichen Kunden, Verlängerung der Kreditlinien, bevorzugte Beratung, Erleichterung gegenseitiger Besuche, Schaffung regionaler Niederlassungen und Besetzung dieser ausschließlich mit regionalem Personal, ständige Schulungen der neuen Kunden auf die ihnen unbekannten Produkte und wirtschaftlichen Umgangsformen. Damit hatten wir einen guten Eintritt in die dortige, noch nicht vorhandene Wirtschaft, gewannen Vertrauen und entwickelten mit ausschließlich mitteldeutschen Mitarbeitern, die mehrere Wochen in unseren westdeutschen Betrieben ausgebildet wurden, hohes Vertrauen bei der neuen Kundschaft. Mein Sohn und ich legten großen Wert auf ständige persönliche und direkte Kontakte mit dem Markt in Mitteldeutschland und zu unseren Kunden.

Wie verliefen die ersten Monate nach dem Mauerfall aus Unternehmenssicht?
Jordan: Lieferungen erfolgten anfangs in vielen homöopathischen Dosen, zwei- bis dreimal wöchentlich. Doch die Ware musste auch bezahlt werden. Anfangs gab es noch keine Bankverbindung. Es blieb nur die Barzahlung, und zwar nach mehreren Wochen. Großes Vertrauen wurde abgefordert, aber auch gern gewährt. Enttäuschungen machten sich nur breit, wenn westdeutsche Unternehmer ihren Verpflichtungen gegenüber den billigeren Anbietern aus den neuen Ländern nicht nachkamen und Letztere dann in wirtschaftlichen Verfall gerieten. Die durch unsere Lkw-Fahrer mitgenommenen Barzahlungen wurden einige Male von den Ost-Grenzern beschlagnahmt. Die Fahrer gerieten einige Tage in Haft. Unsere Verhandlungen mit der Stasi führten dazu, dass die Geldbeträge in Ost-Mark bei der DDR-Staatsbank in Erfurt eingezahlt werden mussten. Gleichzeitig meldete die HNA, dass die DDR-Regierung begann, ihre große Mengen Ost-Mark zu verbrennen. Wir gingen viele Risiken ein, aber das Geschäft kam zur allseitigen Zufriedenheit in Schwung. Heute zählen unsere mitteldeutschen Niederlassungen zu den Spitzenreitern. Berlin ist Nummer eins.

IHK-Präsident Christian Decken sprach beim Neujahrsempfang 1990 von der Grenzöffnung als „letzte große Chance der Region“. Hat die Region diese genutzt?
Jordan: Viele Unternehmer haben es versucht, erfolgreich waren nur einige solide. Es gab nur wenige, die wie wir gehandelt haben. Für die Region war der Schritt zur deutschen Einheit insgesamt ein großer Gewinn und Voraussetzung für ihre heutige Prosperität. Zum Gelingen trug unsere IHK bei, Voraussetzung war jedoch wie im politischen Leben das Verhältnis der agierenden Menschen untereinander.

Sie waren Vorsitzender des 1985 gegründeten Vereins Pro Nordhessen, dessen Ziel es ist, sich für eine erfolgreiche Zukunft der Region einzusetzen. Wie hat sich das Selbstbild der Nordhessen seit dem Mauerfall verändert?
Jordan: Mit der Wiedervereinigung wuchsen sukzessive auch die wirtschaftlichen Möglichkeiten und damit ein gewisses Selbstbewusstsein, welches durch die Grenznähe nach dem Krieg stark gelitten hatte. Natürlich spielt die zurückhaltende Art der Nordhessen eine Rolle, aber auch im positiven Sinne. Diese Qualitäten wurden durch Pro Nordhessen neu entdeckt, publiziert und haben die Menschen geprägt – neben den angeborenen Eigenschaften wie Zuverlässigkeit, Fleiß, Ehrlichkeit und Treue.