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Aktionstag der IHK im Volkswagen-Werk

Industrie: IW-Experte warnt vor Südkorea

ihk131119Baunatal/Kassel. Das Geschäftsmodell des Industriestandorts Deutschland ist weltweit nahezu einzigartig. „Nur Südkorea und Tschechien weisen vergleichbare Strukturen auf“, erklärte Dr. Karl Lichtblau, Sprecher der Geschäftsführung der IW Consult GmbH des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) Köln, beim Industrie-Aktionstag der IHK Kassel-Marburg Mitte November im Volkswagen-Werk Kassel. Er warnte davor, den Blick zu sehr auf die Volksrepublik China zu richten. „Der Gewinner der vergangenen 15 Jahre heißt Südkorea“, stellte Lichtblau klar. „Wenn wir uns mit erfolgreichen Industriestandorten beschäftigen, müssen wir vor allem auf diese Nation achten.“ Der Branchenexperte forderte, die komplexen Strukturen der Industrie und deren Wertschöpfungsketten zu erhalten. Eine Gefahr dafür sei unter anderem die steigende EEG-Umlage. „Gute Industriepolitik ist eine gute Wirtschaftspolitik“, stimmte der Vorsitzende des IHK-Industrieausschusses Reinhard Bauer zu. „Wir benötigen ein industriefreundliches Umfeld sowie kalkulierbare Energiekosten, qualifizierte Mitarbeiter, einen sicheren Zugang zu Rohstoffen sowie die Akzeptanz und Toleranz der Bürger für Industrieprojekte“, sagte der Geschäftsführer der Horn & Bauer GmbH & Co. KG in Schwalmstadt.

In Nordhessen und dem Altkreis Marburg liege die Bruttowertschöpfung der Industrie deutlich über dem bundesweiten Durchschnitt, sagte Bauer. Er berichtete, dass mit regionalen Unterschieden zwischen 20 und 35 Prozent der Erwerbstätigen in der Industrie tätig seien – ungeachtet der Beschäftigungseffekte bei Lieferanten und Dienstleistern. „Der Wohlstand in unserem IHK-Bezirk hängt in besonderem Maße davon ab, wie es der Industrie geht“, fasste Bauer zusammen. „Sie bildet das wirtschaftliche Rückgrat und sichert die Beschäftigung in der Region.“

Zu bedenken gab Lichtblau, dass in ländlichen Regionen die Investitionen in Forschung und Entwicklung (FuE) geringer ausfallen. Ferner seien dort weniger Ingenieure beschäftigt. „Empirisch lässt sich nachweisen, dass Unternehmen, die forschen, innovativ sind und international agieren, erfolgreicher sind als andere“, erläuterte er. Ein weiteres Erfolgsgeheimnis stellten Kooperationen dar. Lichtblau: „Für Netzwerke ist räumliche Nähe wichtig.“

Das produzierende Gewerbe trage zur Entwicklung bei, indem es zum Beispiel Vorleistungen anderer Branchen abnehme. Die nominale Bruttowertschöpfung der Industrie pro Stunde betrug 2012 laut Lichtblau 58,04 Euro. Über alle Branchen hinweg belief sie sich auf 48,93 Euro. Wissen zu generieren sei außerdem die Domäne der Industrie. Dessen Anteil an den FuE-Ausgaben betrage 86,7 und an den Innovationsaufwendungen 74 Prozent. Der IW-Experte identifizierte hybride Geschäftsmodelle als Erfolgsfaktor. Das Integrieren von Dienstleistungen in den Lebenszyklus eines Produkts sei aber noch nicht verbreitet. Gesamtwirtschaftlich betrachtet seien 15,6 Prozent der Betriebe in diesem Segment tätig.

Der Industrie 4.0 könne ebenfalls die Zukunft gehören. Sie versetze Mensch und Maschine in die Lage, über Web-Technologien in Echtzeit zu kommunizieren und selbststeuernd zu agieren. „Es handelt sich noch um ein Randthema“, teilte der Branchenkenner mit. „Nur 2,5 Prozent der Unternehmen beschäftigen sich intensiv damit.“ Den Wettbewerbsvorteilen – höhere Flexibilität, bessere Reaktionsmöglichkeiten auf Kundenwünsche, ansteigende Produktivität sowie das Realisieren weiterer Effizienzreserven – stünden die Erfordernisse einer sicheren Kommunikation gegenüber. „Diese Fragen müssen erst noch gelöst werden“, schränkte Lichtblau ein.

Weltweit befinde sich das produzierende Gewerbe auf dem Rückzug. Ausnahmen bildeten neben der Bundesrepublik mit einem weitgehend stabilen Industrieanteil von durchschnittlich 23 Prozent an der Bruttowertschöpfung einige Länder in Südostasien, schilderte der Experte vom IW. Eine Gefahr: Die Produktion ziehe dorthin, wo die Nachfrage vorhanden sei. „Und das ist nicht in der EU“, konstatierte Lichtblau. „Sondern in den Schwellenländern.“ Der Referent betrachtet die fehlende industrielle Verankerung und Verflechtungen der europäischen Nachbarn mit Sorge. „Es kann uns nicht egal sein, wenn in Italien die Branche auf Talfahrt geht“, sagte er. „Die Industrie auf unserem Kontinent kann nur dauerhaft überleben, wenn das innereuropäische Netzwerk dichter wird.“

Im internationalen Vergleich erweise sich die Bundesrepublik als starker Standort – obwohl hierzulande nicht alles perfekt sei und man Probleme habe. Deutschland habe es jedoch als eines der wenigen traditionellen Industrienationen geschafft, seine Position in den vergangenen Jahren zu verbessern. Als Chance für die Unternehmen erweise sich, dass die Schwellenländer nach hochwertigen Konsum- und Ausrüstungsgütern lechzten.
Darüber hinaus seien Antworten auf zentrale Zukunftsfragen nur durch industrielle Lösungen denkbar, wie in den Themenfeldern Klimawandel, alternde Gesellschaften und Mega-Städte. „Die Industrie hat Zukunft“, fasste Lichtblau zusammen. „Die Frage ist nur, wo produziert wird.“  (red)

Branche im Fokus: Zitate aus der Podiumsdiskussion

„Die Energieverbräuche werden weiter steigen. Das ist eine Herausforderung für uns, obwohl wir uns mit einem eigenen Gaskraftwerk zu 80 Prozent selbst mit Energie versorgen. Wir sind seit 2010 dabei, sämtliche Verbräuche zu senken und wollen bis 2018 eine Reduzierung um 25 Prozent geschafft haben.“
Rudi Stassek, VW-Werk Kassel

„Sich zu vernetzen halte ich für sehr wichtig – ohne geht es nicht. Als Mittelständler erhoffe ich mir einen Wissenstransfer.“
Reinhard Bauer, Horn & Bauer GmbH & Co. KG, Schwalmstadt

„Junge Nachwuchskräfte wollen nicht automatisch die Region verlassen. Es entscheiden die Perspektiven vor Ort und Mittelständler können da mit flachen Hierarchien und direkteren Aufstiegsmöglichkeiten punkten. Unsere Ausbildungsquote beträgt mittlerweile fast zehn Prozent, um unseren künftigen Bedarf zu decken. Außerdem haben wir konsequent in gute und ergonomische Arbeitsbedingungen für unsere Mitarbeiter in der Produktion und Verwaltung investiert. Das spricht sich rum.“
Dr. Mathias Schäfer, FingerHaus, Frankenberg

„Wir arbeiten seit Jahrzehnten mit der Universität Kassel zusammen, zum Beispiel im Bereich Kunststoffe. B. Braun fördert Stiftungsprofessuren und Stipendien und rekrutiert über die Uni auch Fach- und Führungskräfte, die bereits eine Bindung zur Region entwickelt haben.“
Dr. Bernadette Tillmanns-Estorf, B. Braun Melsungen AG