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Gedenkveranstaltung zur Reichspogromnacht

Der Weg der zu Deportierten, den sie am 9. Dezember 1941 zum Kasseler Hauptnahnhof zu Fuß zurücklegen mussten (aus: Jörg Kammler, u.a., Volksgemeinschaft und Volksfeinde, Kassel 1933 bis 1945, Fuldabrück 1984, S. 267). Quelle: Thomas Schattner

Der Weg der zu Deportierten, den sie am 9. Dezember 1941 zum Kasseler Hauptnahnhof zu Fuß zurücklegen mussten (aus: Jörg Kammler, u.a., Volksgemeinschaft und Volksfeinde, Kassel 1933 bis 1945, Fuldabrück 1984, S. 267). Quelle: Thomas Schattner

Homberg. Was am Abend des 8. November hier im Kreisgebiet begann, endete mit der Vernichtung der europäischen Juden in den Konzentrations- und Vernichtungslagern im Osten. Das Ghetto Riga bildet dabei sozusagen den Auftakt. Schließlich fuhr der erste Deportationszug mit den nordhessischen jüdischen Bürgen von Kassel aus am 9. Dezember 1941 in das Ghetto im heutigen Lettland. Deshalb steht am Dienstag, dem 8. November, das Ghetto Riga ab 17 Uhr im Zentrum der Homberger Gedenkveranstaltung. Es laden dazu ganz herzlich der Ökumenische Arbeitskreis Homberg und die Stadt Homberg ein, die bereits zum zweiten Mal den Rathaussaal dafür zur Verfügung stellt. Verantwortlich sind wiederum Schüler und Schülerinnen der EKS und der BTHS (AG „Schule ohne Rassismus“) gemeinsam mit ihren Lehrern, Gunnar Krosky und Thomas Schattner, die in einem erneuten Kooperationsprojekt die Gedenkfeier gestalten. Für musikalische Beiträge sorgt die BTHS-Schülerin Luisa-Marie Otto mit ihrer Geige.

Vor 75 Jahren erfolgte die erste von drei großen Deportationswellen der jüdischen Bürger des Regierungsbezirks Kassel. Etwa 1.000 Menschen wurden an diesem Dienstag aus der Residenzstadt unter der Führung der Staatspolizeistelle Kassel in den Osten verschickt. Sie waren Teil eines großen Programms. Ca. 25.000 jüdische Bürger – Männer, Frauen und Kinder – wurden vom November 1941 bis zum Winter des nächsten Jahres aus dem gesamten Deutschen Reich in ca. 28 Transporten nach Riga verschickt.

Auf der Kasseler Transportliste waren dann zwischen 1.022 und 1.034 Personen für den Todeszug verzeichnet, darin sind sich die Quellen nicht ganz einig. Unter ihnen waren auch 21 Menschen jüdischen Glaubens aus dem alten Kreis Fritzlar-Homberg sowie 49 aus dem alten Kreis Melsungen. Das Durchschnittsalter aller Insassen betrug ungefähr 39 Jahre.

Zuleitungszüge aus dem Regierungsbezirk Kassel, die am 8. Dezember 1941 in Kassel ankamen, leiteten die „umfassende Evakuierungsaktion“ ein. So verließ der Personenzug, welcher die jüdischen Bürger des Kreises Fritzlar-Homberg nach Kassel bringen sollte, den Fritzlarer Bahnhof um 10.12 Uhr. In Kassel empfingen Gestapobeamte die Ankommenden mit Fußtritten und Beschimpfungen, um sie anschließend weiter zu begleiten. Der zentrale Sammelpunkt in Kassel war der Turnhallenkomplex der Bürgerschulen in der Schillerstraße. Dorthin brachte die Gestapo auch mehr als 470 Juden, die in Kassel selbst wohnten, unter ihnen viele aus den umliegenden Landkreisen, so auch aus dem heutigen Schwalm-Eder-Kreis, die nach 1933 in den Schutz der Anonymität der Großstadt geflohen waren. „Am folgenden Morgen begann die mehr als tausendköpfige Menge, unter ihnen 90 Kinder bis zum zehnten Lebensjahr, von dort ihren Marsch durch die Stadt bis zum Hauptbahnhof, um in Abteilwagen 3. Klasse ihre Fahrt nach Riga anzutreten“. Um den wahren Charakter der Fahrt zu verschleiern, war es den jüdischen Bürgern gestattet, Koffer und Handgepäck bis zu 50 Kilogramm mitzuführen. Auch Haushalts- und Gebrauchsgegenstände waren dabei zugelassen. Zuvor wurden die zu Deportierten in Kassel eingehend auf Wertsachen wie Gold, Silber und Platin durchsucht. Des Weiteren wurde ihnen sämtliches Bargeld abgenommen.

Im Todeszug, der am Nachmittag vom Kasseler Hauptbahnhof von Gleis 13 aus nach Riga fahren sollte, saßen in Vieh- und Güterwagons bzw. Personenwaggons 3. Klasse u.a. aus dem heutigen Schwalm-Eder-Kreis: Hedwig Holzapfel aus Borken, Rosa Adler sowie Resi, Ruth und Erwin Deutsch aus Felsberg, die gebürtige Felsbergerin Emma Leviberg, ebenfalls aus Felsberg stammten Moritz Moses Mannsbach und Emma Traub, Meinhard und Paula Rosenthal mit dem neunjährigen Sohn Horst und Isaak Wertheim aus Falkenberg, Else Blum aus Frielendorf, Selma Goldschmidt mit Sohn Lothar aus Hebel, Laser und Jettchen Frenkel aus Wabern und der gebürtige Waberner Siegfried Kaiser mit seiner Ehefrau Berta und den Kindern Ilse und Rudolf.

Herrschte schon auf dem Kasseler Bahnhof große Panik, schließlich suchte jeder sein Gepäck und seine Familienmitglieder, so sollte das nur eine „Ouvertüre“ zu dem sein, was den Deportierten nun bevorstand. Was diese Menschen im Ghetto Riga erleben und erleiden mussten, lässt sich nur ansatzweise aus den Berichten der wenigen Überlebenden rekonstruieren. Schon die etwa 70 Stunden dauernde Zugfahrt war eine Tortur ohne gleichen. Ohne Nahrung (lediglich etwas Wasser zum Trinken war vorhanden) und ohne sanitäre Anlagen, geschweige denn Wasser zum Waschen, in teils überhitzten und teils nicht geheizten Waggons ging es über Berlin, Breslau, Posen, Königsberg und Tilsit nach Lettland. Dazu gehörten Übernachtungen in diesem sehr strengen Winter im Freien – es war Dezember – natürlich unter strengster Bewachung.

Die Kennkarte von Siegfried Kaiser, gebürtig aus Wabern, vom 28. April 1939 (Stadtarchiv Kassel, Signatur:A 3.32 Volkskartei, Abt.J). Quelle: Thomas Schattner

Die Kennkarte von Siegfried Kaiser, gebürtig aus Wabern, vom 28. April 1939 (Stadtarchiv Kassel, Signatur:A 3.32 Volkskartei, Abt.J). Quelle: Thomas Schattner

Am 12. Dezember, nach der Ankunft am Rigaer Güterbahnhof Skirotava, wurden die Güterwagons geöffnet. Am Bahnsteig hatten sich viele SS-Mitglieder versammelt. Ältere Menschen und Kinder, die nicht sehr schnell aussteigen konnten, wurden brutal von ihnen geschlagen, mit Stiefeltritten malträtiert, Hunde wurden auf sie gehetzt. Das war die „Begrüßung“. Nun trieb man die armen Menschen in das fünf Kilometer entfernte Ghetto.

Wer schnell genug auf den Beinen war, konnte so bald sein Quartier beziehen. Sofort war den Deportierten klar, dass hier noch vor kurzem Menschen gelebt hatten. So stand z.B. häufig noch ein sehr einfaches Essen auf dem Tisch. Auf die Frage, wo die Vorbewohner seien, antwortete einer der Bewacher: „Gegenüber, hinter dem großen Zaun gibt es ein Ghetto für arbeitsfähige männliche lettische Juden“. Sofort fragten die Neuankömmlinge nach, wo die Frauen dieser Männer wären. Die Antwort: „Sie wurden auf Lastwagen aufgeladen und sie leben jetzt hinter den Wäldern“. Später wurde den nordhessischen Bürgern klar, dass kurz vor ihrer Ankunft das Ghetto Riga „freigemacht“ wurde. In den freigewordenen Häusern lebten nun zunächst ca. 14 bis 16 nordhessische Personen in zwei kleinen Räumen unter katastrophalen Umständen.

Diese wurden später bei einem Appell als arbeitsfähig oder arbeitsunfähig eingestuft. Diejenigen, die als arbeitsunfähig galten, hatten kaum eine Chance zu überleben. Schließlich wurden Kommandos jüngerer Männer gebildet, die im Bickernicker Wald Massengräber ausheben mussten, deren Ausmaße ungefähr sechzehn mal vier mal zwei Meter betrugen. Mit Lastwagen wurden die Betroffenen vom Ghetto in den Wald gebracht. Beteiligt an dieser Aktion waren die Luftwaffe, das Heer, der SD (Sicherheitsdienst der SS) und die SS selbst, die jeweils Wagen zum Transport stellten. Von den ankommenden Lastwagen wurden jeweils ca. 200 Personen zu den Gruben vorgeführt. Vor den vorbereiteten Massengräbern wurden jeweils ca. zwanzig Personen aussortiert. Anschließend wurden sie ohne Unterschied bezüglich des Geschlechts, des Alters etc. entkleidet und dann mittels eines Maschinengewehrfeuers niedergemacht – brutal ermordet. Die jeweils zwanzig Armen hatten die Aufgabe, die Toten in die Massengräber zu befördern, ehe auch sie das gleiche Schicksal ereilte.

Wer „Glück“ hatte und die Selektion überlebt hatte, konnte in der eisigen Kälte am Bahnhof das Eis von den Schienen hacken. Ab dem Frühjahr 1942 mussten die Deportierten in einer Munitionsfabrik arbeiten.

Statistisch gesehen überlebten das Ghetto Riga drei bis vier Prozent der Verschleppten. So verwundert es schon, dass ca. 100 Deportierte dieses Transportes überlebten. Allerdings waren gerade die Opferzahlen der oben namentlich genannten Personen aus der Region des Schwalm-Eder-Kreises sehr hoch. Die meisten gelten seit ihrem Eintreffen in Riga „als verschollen“ bzw. sie wurden dann im Verlauf des Jahres 1945 für tot erklärt. Fünf von ihnen wurden im September 1944, als die Ostfront immer weiter nach Westen vordrang und die Reichsgrenze mittlerweile bedroht war, ins Konzentrationslager Stutthof bei Danzig gebracht. Dieses Lager überlebte als einzige Ilse Kaiser. Sie heiratete 1945 im ehemaligen Konzentrationslager Bergen-Belsen einen polnischen Staatsangehörigen, mit dem sie anschließend nach Palästina auswanderte.

Quellenverzeichnis:

Unveröffentlichte

Hessisches Staatsarchiv Marburg, Bestand 180 Landratsamt Fritzlar, Nummer 2738.

Veröffentlichte

Hans Baermann, Massenmorde im Rigaer Ghetto, in: Der Buchenwald-Report, Hrsg.: David A. Hackett, München 1996,
Buch der Erinnerung, Die ins Baltikum deportierten deutschen, österreichischen und tschechoslowakischen Juden, bearbeitet von Wolfgang Scheffler und Diana Schulle, Hrsg.: Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge e.V. u.a., Band 2, München 2003,
Alfred Gottwaldt und Diana Schulle. Die „Judendeportationen“ aus dem Deutschen Reich 1941-1945, Wiesbaden 2005,
Monica Kingreen, Die gewaltsame Verschleppung der Juden aus dem Dörfern und Städten des Regierungsbezirks Kassel in den Jahren 1941 und 1942, in: Das achte Licht, Beiträge zur Kultur- und Sozialgeschichte der Juden in Nordhessen, Hrsg.: Helmut Burmeister u.a., Hofgeismar 2002,
Namen und Schicksale der Juden Kassels 1933 – 1945, Ein Gedenkbuch, bearbeitet von Beate Kleinert und Wolfgang Prinz, Hrsg.: Magistrat der Stadt Kassel – Stadtarchiv -, Kassel 1986,
Riga-Bickernieki, Hrsg.: Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge e.V. u.a., Kassel 2001,
Thomas Schattner, „Wabern ist frei von Juden“, Hrsg.: Gemeinde Wabern, Wabern 2001,
Anna Maria Zimmer, Juden in Eschwege, Eschwege 1993.

(Thomas Schattner)