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Das Homberger Gymnasium und Fritz Bauer 1963

Foto: Thomas Schattner

Foto: Thomas Schattner

Schwalm-Eder. Die Stadtverordnetenversammlung in Melsungen fasste im Februar 2016 einstimmig den Beschluss, einen Platz nach Friedrich Stöhr und Fritz Bauer zu benennen. Noch in diesem Herbst soll voraussichtlich die kleine Grünfläche in der Lindenbergstraße (direkt rechts nach der Bahnunterführung, wenn man von Süden kommt) nach den beiden benannt werden.

Der Metzgermeister Friedrich Stöhr schützte mit dem Schweinstreiber in der Hand eine jüdische Familie, in deren Haustür er stand, als die nationalsozialistischen Täter am Abend des 8. November 1938 in der Reichspogromnacht wüteten. Stöhr stand in der Tür und machte jedem klar, der in das Haus eindringen wollte, dass es einen kräftigen Hieb mit dem Schweinstreiber auf den Kopf geben würde. So rettete er die jüdische Familie, denn das wagte kein Melsunger Nationalsozialist.

Der zweite Namensgeber ist kein Melsunger, aber ein Mann, der es durchaus wert ist, dass auch in Melsungen an ihn erinnert wird. Die Stadtverordneten möchten damit einen Mann ehren, der es schaffte, dass im Dezember 1963 in Frankfurt a.M. der Auschwitz-Prozess beginnen konnte. Damit erlangte die Auseinandersetzung mit dem Holocaust in der Alt-Bundesrepublik erstmals eine wirklich öffentliche Dimension. Die Süddeutsche Zeitung schrieb am 20. Dezember 2013: „Es ist ein riesiger Prozess geworden, mit zwanzig Angeklagten, vom SS-Lageradjutanten bis hinunter zum Häftlingskapo; der größte Prozess in der Geschichte der deutschen Strafjustiz. Vom 20. Dezember 1963 an ist das Wort ´Auschwitz´ in deutsche Wohnzimmer gedrungen, zwanzigtausend Deutsche sind als Zuschauer in den Gerichtssaal geströmt, unter ihnen viele Studenten. Fritz Bauer ist jetzt der bekannteste und […] auch meist gehasste Staatsanwalt des Landes. Und er ist selbst jüdisch“.

Fritz Bauer und Homberg
Der ehemalige hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer, der nie in Homberg persönlich anwesend war, stand aber im März des Jahres 1963 im Zentrum von zwei Gesamtkonferenzen des Kollegiums an der Homberger August-Vilmar-Schule (heute BTHS). Mit großer Mehrheit wurde dabei beschlossen, den hessischen Kultusminister zu bitten, die „Interessen und [das] Ansehen der hessischen Lehrerschaft gegenüber Herrn Generalstaatsanwalt Bauer zu vertreten“.

Was war passiert? Bauer hatte in einem Interview mit einem jungen dänischen Journalisten am 27. Februar 1963 in der dänischen Boulevard-Zeitung „B.T.“ erklärt, „die deutschen Schulen seien das Autoritärste, das es in Deutschland gäbe, und die Kinder seinen mehr oder weniger schlechten (´unheldige´) Lehrern ausgeliefert (oder ´preisgegeben´)“.

Das wollte sich das Homberger Kollegium in großen Teilen nicht bieten lassen. 25 Lehrer der AVS empfanden diese Äußerung Bauers „als kollektive Diffamierung der Lehrerschaft vor dem Ausland und bitten den Herrn [Kultus-]minister, den hessischen Genrealstaatsanwalt um eine Stellungnahme zu ersuchen und für die hessische Lehrerschaft einzutreten, falls er sich in dem dargestellten Sinne geäußert hat“.  Man war hier in den Formulierungen sehr vorsichtig, weil das Interview in dänischer Sprache geführt wurde, da Bauer durch das Exil von 1936 bis 1943 in Dänemark fließend dänisch sprach. Den Abschluss der Petition bildete die Formulierung: „Das Kollegium legt Wert auf die Feststellung, dass es sich nicht in die politische oder parteipolitische Auseinandersetzung des Falles Bauers eingreifen will“. Doch genau tat das Kollegium in Homberg. Schließlich hatte ihm der spätere Bundeskanzler Helmut Kohl ein Jahr zuvor vorgeworfen, dass es „noch zu früh“ für ein abschließendes Urteil über die nationalsozialistische Vergangenheit sei.

Dies sah Schulleiter Dr. Horst Clément damals allerdings ganz anders. Er konnte sich aus zwei Gründen dem Votum seines Kollegiums nicht anschließen. Zum einen erschien die Aussage Bauers als zu beiläufig formuliert, zum anderen befürchtete er, Bauers Äußerung könne zu pathetisch dramatisiert sein. Zudem fürchtete er, „dass damit Wasser auf die Mühlen derjenigen geleitet wird, die ihr parteipolitisches Kesseltreiben gegen den hessischen Generalstaatsanwalt veranstalten“.

Anschließend schlug Dr. Clément einen Kompromiss in einem Brief an den Hessischen Kultusminister vom 28. März 1963 vor, mit dem er seinem Kollegium und ihrem energischen Einspruch, aber vor allem Fritz Bauer gerecht werden wollte: „Wenn Sie, Herr Minister, Herrn Dr. Bauer veranlassen könnten, sich gelegentlich mit Vertretern der hessischen Lehrerschaft zu einem Gespräch zusammenzusetzen, an dem auch Mitglieder meines Kollegiums teilnehmen könnten, so wäre der Sache gedient und die Demarche der Homberger Studienräte hätte vielleicht doch einen Sinn gehabt“.

Nichtsdestotrotz spiegelte sich hier der Zeitgeist wieder. Das Homberger Kollegium war wie anderen Schulen gespalten. Es gab die liberalen, demokratischen Kräfte wie Dr. Clément, aber auch eine große Kontinuitätslinien in den Kollegien der Schulen. So setzten nach 1945 mehr als ein Drittel der Homberger Lehrer ihre pädagogische Laufbahn nach kurzen Unterbrechungen fort. Fünf derjenigen, die gegen Fritz Bauer unterzeichnet hatten, unterrichteten bereits in der nationalsozialistischen Zeit am Homberger Gymnasium.

Ob es je zu dem Gespräch kam, ist unbekannt. Fritz Bauer starb am 1. Juli 1968, einige Denkmäler, vor allen in Frankfurt a.M., erinnern an ihn. 49 Jahre nach seinem Tod kommt ein Platz im nordhessischen Melsungen dazu.

Quellenverzeichnis:
Brief von Dr. Clément an den Hessischen Kultusminister vom 28. März 1963,
Konferenzbeschluss der Gesamtkonferenz der AVS vom 26. März 1963
(beide Schriftstücke sind im Bestand des Schulmuseums der BHTS Homberg).

(Thomas Schattner)