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Wabern bekommt Stolpersteine

Gunter Demnig im März 2005 in Homberg. Foto: Thomas Schattner

Gunter Demnig im März 2005 in Homberg. Foto: Thomas Schattner

Wabern. Auf Anregung des Waberner Geschichts- und Kulturkreises e.V. werden Anfang Februar für zwei ehemalige jüdische Familien Waberns neun „Stolpersteine“ des Kölner Künstlers Gunter Demnig in der Bahnhofstraße verlegt. Sie werden mit vier Steinen an die Familien Frenkel und mit fünf Steinen an Löwensteins und ihre Schicksale erinnern.

Das Projekt „Stolpersteine“ des Kölner Künstlers Gunter Demnig
Seit 1992 verlegt Demnig (Jahrgang 1947) diese 10 x 10 x 10 cm großen Betonsteine aus hochverdichtetem und im Wasserbad gehärtetem Estrich mit in Baustahl verankerter Messingplatte. Sie werden von ihm vor den ehemaligen Wohn- und Geschäftshäusern der Opfer der Nationalsozialisten verlegt. Sein Handwerkszeug besteht dabei aus Meißeln und Boschhämmern, Kabeltrommeln und Zement. Zuvor wird die Schrift mit Schlagbuchstaben von Hand aufwändig eingehämmert, sie enthält Name und Schicksal der betreffenden Person.

Egal ob politischer Verfolgter, Sinti und Roma, Jude, Homosexueller oder Euthanasie-Opfer. All jenen, die in Ghettos und Konzentrationslagern ihres Namens beraubt wurden und stattdessen zur Nummer wurden, gibt Demnig ihre Namen wieder. Finanziert werden diese 120 Euro teuren Steine über Patenschaften. Diese übernehmen Waberner Familien und der Geschichts- und Kulturkreis e.V. Mit ihrer Verlegung gehen die Steine dann als Schenkung in das Eigentum der jeweiligen Gemeinde über.

In etwa 1.200 Städten und Gemeinden republikweit, von Flensburg bis Freiburg, von Berlin bis Zwickau und von Köln bis Eberswalde und im europäischen Ausland gibt es mittlerweile diese Gedenksteine (Stand: Dezember 2017). Über 63.000 Steine hat Demnig mittlerweile in 22 Ländern verlegt. Deshalb veränderte Demnig die Organisation und Logistik des Projekts. Ein neunköpfiges Team kümmert sich heute um Herstellung und Verlegung der Steine, für das er bereits 2004 mit dem German Jewish History Award ausgezeichnet wurde, knapp 20 weitere renommierte Preise folgten.

Die Steine für die Homberger Familie Heilbronn vor der Verlegung im Frühjahr 2005. Foto: Thomas Schattner

Die Steine für die Homberger Familie Heilbronn vor der Verlegung im Frühjahr 2005. Foto: Thomas Schattner

Da Demnig zu Beginn des Projekts meistens in den größeren Städten wie Berlin, Bonn, Freiburg, Hamburg, Leverkusen und Köln gearbeitet hat, wurde es Zeit, dass dieser Teil der deutschen Geschichte nun auch in kleineren Städten und Ortschaften bearbeitet wird. Den Anfang machten im Schwalm-Eder-Kreis 2004 die Städte Ziegenhain und Treysa, wo sich unter anderem Schüler für Demnigs Arbeit engagierten. Zur Jahreswende 2004/05 haben sich dann als nächstes die Städte Homberg und Fritzlar durch Magistratsbeschluss für das Projekt entschieden, in Guxhagen und Rengshausen sorgten Privatinitiativen für die Verlegung der Steine, in Bad Zwesten sorgten das Stadtparlament, die Kirchengemeinde und der Heimat- und Geschichtsverein gemeinsam für die Realisierung des Vorhabens. Es folgten Spangenberg 2006, Gudensberg, Obervorschütz und Schwarzenborn im Jahr 2009, Besse und Melsungen 2010 und Borken im Jahr 2011ff., Bischhausen und Malsfeld 2012, Neukirchen 2014, Felsberg 2015 sowie Kerstenhausen und Gilsa im Jahr 2017. Und auch in Kassel werden seit dem Jahr 2011 „Stolpersteine“ verlegt. Lediglich in Frielendorf und in Grossropperhausen scheiterte im Vorfeld der Planungen 2003 bzw. 2012 das Projekt – zumindest vorerst.

Wie wichtig gerade auch den jüdischen Nachfahren der Opfer diese Arbeit ist, zeigt eine Stellungnahme der Jerusalemer Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem. Diese teilte dem Künstler mit, dass es sich hierbei um „a wonderful project“ handele. So verwundert es auch nicht, dass zur ersten Verlegung der Steine in Fritzlar am 7. März 2005 mehrere Nachfahren eines in Fritzlar geborenen Juden extra angereist kamen. Denn einerseits erinnert Demnigs Werk an die Opfer der nationalsozialistischen Verbrechen, andererseits werden so symbolisch Familien vor Ort wieder zusammen geführt. So bekommen z.B. auch die Überlebenden der Familie Löwenstein Steine, die an ihr Exil in den USA und den Niederlanden erinnern.

Demnigs Weg als Künstler – zwischen Kunst und Geschichte
Demnigs großes künstlerisches Thema ist „Spuren suchen und Spuren legen“. Viele seiner Werke können auch als die lange Vorgeschichte der „Stolpersteine“ gesehen werden. Im September 1980 machte sich Gunter Demnig von der Kasseler Kunstakademie aus zu Fuß auf einen langen Weg. Sein Ziel war das 818 Kilometer entfernte Paris. Während er lief, schob er eine Farbwalze vor sich her, die endlos das Wort „Duftmarken“ auf das Straßenpflaster druckte. Beide Städte sollten durch das längste Kunstwerk der Welt, durch seine „Mobile Plastik“, verbunden werden. Damals lief Demnig auch durch Wabern, wo er nun hin zurückkehren wird. Mit einem anderen Werk im Jahr 1983 verband er die Documenta-Stadt Kassel mit der Biennale-Stadt Venedig durch einen roten Faden (mit diesem Ariadne-Faden vollendete er das längste Kunstwerk der Welt, für das er ins Guinness Buch kam), Demnig stanzte in der internationalen phonetischen Lautschrift von 120 Sprachen den ersten Artikel der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte in Tontafeln oder 1.200 Texte von Friedens- oder Freundschaftsverträgen der Weltgeschichte von 2.260 vor Christus bis in unsere Gegenwart in einen riesigen Bleiteppich. 1990 erinnerte er dann in Köln zunächst mit Kreide-, dann mit Messingschriftzügen an die Deportation von Sinti und Roma vor 50 Jahren. Von hier war es nicht mehr weit zu den „Stolpersteinen“ (die ersten wurden noch illegal im Berliner Stadtteil Kreuzberg verlegt).

Ein Mahnmal von unten in Sisyphusarbeit

Der Kofferraum mit Demnigs Arbeitsgerät im Sommer 2017 im Kontext der Verlegung in Gilsa. Foto: Thomas Schattner

Der Kofferraum mit Demnigs Arbeitsgerät im Sommer 2017 im Kontext der Verlegung in Gilsa. Foto: Thomas Schattner

Demnig ist sich dabei bewusst, dass er keine 6 Millionen „Stolpersteine“ verlegen kann, „aber ich kann klein anfangen“. Weit über 90 Prozent Zustimmung erfährt er dafür bei den Anwohnern. So entstand Stück für Stück ein großes „Mahnmal von unten“, aus der Bevölkerung heraus, ein bewusster Gegensatz bzw. eine sinnvolle Ergänzung zum zentralen Denkmal für die ermordeten Juden Europas in Berlin, welches im Mai 2005 der Öffentlichkeit übergeben wurde. Hinzu kommt, dass Demnig Hilfe bei der Recherche, den Namen, den Adressen der Deportierten benötigt: „Ich brauche aber Ansprechpartner vor Ort: eine Gruppe, die Gemeinde“.

Europaweit das größte dezentrale Mahnmal
Demnigs Projekt ist zum größten dezentralen Mahnmal in Europa geworden, denn auch an die Verlegung im Ausland hat schon eine lange Tradition. Der Schwalm-Eder-Kreis ist fester Bestandteil dieses Projekts. Nun kommt auch Wabern mit vorläufig neun Steinen hinzu. Mit der Verlegung wird Demnig die Familien symbolisch vor Ort wieder zusammen führen, die durch Flucht und Vertreibung bzw. Deportation und Ermordung getrennt wurden. Zu einem späteren Zeitpunkt sollen noch Steine für die Mitglieder der Familie Mandelbaum bzw. Kaiser gelegt werden. Demnig wird und muss wohl auch nun mittlerweile 70jährig weitermachen und mit seinem Transporter von Ort zu Ort fahren, obwohl seine Arbeit nicht nur körperlich anstrengend ist. Zumindest so lange, wie sein Rücken mitmacht. (Thomas Schattner)



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