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Die Familie Löwenstein: Eine jüdische Diaspora-Familie in Wabern (Teil 1)

Undatierte Postkarte, das Löwensteinsche Geschäft zeigend, im Fenster sind vermutlich Irma und ihre neun Jahre jüngere Schwester Hanna zu erkennen, am Gartentor steht höchstwahrscheinlich Mutter Gitta. Foto: Archiv Thomas Schattner

Undatierte Postkarte, das Löwensteinsche Geschäft zeigend, im Fenster sind vermutlich Irma und ihre neun Jahre jüngere Schwester Hanna zu erkennen, am Gartentor steht höchstwahrscheinlich Mutter Gitta. Foto: Archiv Thomas Schattner

Wabern. Wenn am 8. Februar 2018 Steine für die Familienmitglieder in der Bahnhofstraße 21 gelegt werden, kehrt die Familie symbolisch zurück an ihren alten Heimatort. Alle sechs Mitglieder der Familie starben fernab ihrer Heimat. Die Familie Löwenstein betrieb etwa seit dem Jahr 1895 ein Textilgeschäft in der Bahnhofstraße, welches am 9. Dezember 1896 in das Handelsregister als Firma „H. Löwenstein“ eingetragen wurde. Höchstwahrscheinlich übernahm Simon das Geschäft von Heinemann Löwenstein, seinem ältesten Bruder (Jahrgang 1840).

Vater war der farbenblinde Kaufmann und Manufakturwarenhändler Simon Löwenstein (geboren am 11. Januar 1875 in Obermöllrich). Seine Ehefrau Gitta, geborene Grunsfeld (geboren am 24. Februar 1875 in Hebenshausen) hatte Simon am 24. Februar 1895 geheiratet. Simon sollte nach dem Willen seines Schwiegervaters eigentlich die älteste Tochter heiraten. Er entschied sich jedoch für die jüngste Tochter.

Das Ehepaar hatte fünf Kinder:
Irma, geboren am 8. Dezember 1895
Adolf, geboren am 18. Januar 1897 (er starb am 5. April 1918 als Student auf den Schlachtfeldern an der Westfront des Ersten Weltkriegs 1918)
Leopold, geboren am 18. Februar 1898
Walter, geboren am 12. Mai 1900
Hanna, geboren am 27. Januar 1906

Geschäftsanzeige im Fritzlarer Kreis-Anzeiger vom 20. August 1918. Foto: Archiv Thomas Schattner

Geschäftsanzeige im Fritzlarer Kreis-Anzeiger vom 20. August 1918. Foto: Archiv Thomas Schattner

Die Kinder besuchten zunächst die Volksschule in Wabern. Danach wechselten sie mit Ausnahme der Tochter Hanna auf die Oberrealschule nach Kassel. Lediglich Hanna wechselte auf das Lyzeum des Ursulinen-Klosters in Fritzlar. Dort legte sie im Jahr 1923 das Abitur ab. Zuvor hatte Leopold sein Abitur auf dem Kasseler Friedrichs-Gymnasium bestanden. Leopold und Walter absolvierten nach ihrer Schulzeit eine kaufmännische Lehre in Braunschweig, die sie kriegsbedingt unterbrechen mussten.

Irma Löwenstein hatte am 2. September 1921 den Kaufmann Benno Oppenheim geheiratet. Mit der Heirat verließ sie Wabern und zog nach Eschwege. Sie hatten die Kinder Hans-Adolf (geboren am 10. Dezember 1922) und Renate (geboren am 17. August 1927).

Mitte der 1920er Jahre traten Walter (1926) und Hanna (1924) in das elterliche Geschäft in Wabern ein. Walter kümmerte sich nun um die auswärtige Kundschaft, dabei kam ihm seine Erfahrung, die er in einer Textilgroßhandlung in Wuppertal-Elberfeld als Einkäufer und Prokurist gesammelt hatte, zugute. Er fuhr mit einem Wagen über die Dörfer und steigerte so den Umsatz enorm. Hanna übernahm flankierend den Ein- und Verkauf, die Buchführung und viele Büroarbeiten, so dass die Umsätze des Geschäfts außerordentlich hoch waren. Vor der nationalsozialistischen Machtübernahme betrug der jährliche Umsatz zwischen 100.000,- und 400.000,- Reichsmark, so dass der Betrieb sogar ausbilden konnte.

Gitta und Simon Löwenstein (undatierte Fotografie). Foto: Archiv Thomas Schattner

Gitta und Simon Löwenstein (undatierte Fotografie). Foto: Archiv Thomas Schattner

Doch schon im Jahr 1930 wurde der Alltag der jüdischen Bürger in Wabern schwieriger. Tagsüber trauten sich die Löwensteins nicht mehr auf die Straße, so dass auch Gitta und Simon auf ihre abendlichen Spaziergänge verzichten mussten. Ebenso konnten Reparaturarbeiten am Haus der Löwensteins nur noch im Schutz der Dunkelheit ausgeführt werden.

Nichtsdestotrotz heiratete Walter am 2. Juni 1931 Erna Lina Sophie Vesper im englischen Holborn. Wahrscheinlich hatten sie sich im Walters Wuppertaler Zeit kennengelernt. Und Simon feierte wohl auch noch seinen 75ten Geburtstag am 11. Januar 1932 recht feierlich. Aber das gesellschaftliche Klima in Wabern hatte sich verändert. So wurde der Umsatz des Geschäfts nach der nationalsozialistischen Machtübernahme im Januar 1933 fast ausschließlich durch Walters Reisetätigkeit erzielt, die damals noch ungehindert stattfinden konnte. Und im gleichen Jahr begann die Diaspora der Familie.

Rechnung vom 29. Dezember 1932. Foto: Archiv Wolfgang Nelke

Rechnung vom 29. Dezember 1932. Foto: Archiv Wolfgang Nelke

Walter Löwenstein verzog am 4. September 1933 nach Kassel. Dieser frühe Fortgang von Wabern hatte seinen Auslöser in den Vorgängen vom 22./23. Juni 1933 im Karlshof. Dort hatte die SA ein sogenanntes „wildes Konzentrationslager“ eingerichtet. Walter war eines der jüdischen Opfer, die Folterungen über sich ergehen lassen mussten. Im Mai 1936 wanderte er dann in die Niederlande aus.

In Den Haag baute er sich bei ganz geringen Einnahmen eine neue Existenz auf. Als er Anfang März 1943 von der Deutschen Sicherheitspolizei den Aufruf erhielt, sich zum Abtransport in ein Vernichtungslager bereitzuhalten, versteckte sich Walter wie Anne Frank. Nur er sollte mehr Glück haben. Dieses Versteck lag in der Nachbarstadt Utrecht. Über das Leben in der Illegalität berichten Paula und Paul van der Werke: „Er hielt sich bei uns bis zur Befreiung im Mai 1945 versteckt. Während dieser Zeit hat er nur wenige Male und zwar bei Nacht und völliger Dunkelheit das Haus verlassen, um frische Luft zu schöpfen oder dringende Angelegenheiten zu regeln. Lebensmittel oder Lebensmittelmarken wurden illegal für ihn besorgt“. Walters Versteck beschrieb Ehefrau Erna wie folgt: „Das Versteck war räumlich so eng und klein, dass er darin nur mit größter Mühe und in gebückter Haltung passte. Des Öfteren musste er sich darin einen ganze Nacht und einen vollen Tag bewegungslos verhalten, so dass er nicht einmal die einfachsten menschlichen Bedürfnisse verrichten konnte“.

Walter Löwenstein (undatierte Fotografie). Foto: Archiv Thomas Schattner

Walter Löwenstein (undatierte Fotografie). Foto: Archiv Thomas Schattner

Walter überlebte so den Holocaust und blieb anschließend noch einige Jahre in Utrecht. Seit 1957 wohnte er zunächst mit zweitem Wohnsitz in Kassel, ehe er 1964 mit seiner Frau Erna ganz nach Kassel verzog. Walter verstarb am 8. Januar 1967 in Bad Wildungen nur wenige Monate nach dem Tod von Erna. Teil zwei der Löwensteinschen Familienbiografie folgt nächste Woche.

(Thomas Schattner)



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