Weitergabe von Traumata an die nächste Generation
Felsberg. Unter der Überschrift „Familiengeschichten: … bis ins dritte und vierte Glied“ hatte das Evangelische Forum Schwalm-Eder kürzlich zu einem Informations- und Diskussionsabend in die Felsberger Synagoge eingeladen. Der evangelische Pfarrer Thorsten Garbitz aus Schwalmstadt hielt als Trauma-Berater den Leitvortrag.

In der Felsberger Synagoge sprachen über die Aufarbeitung von Traumata aus der Familiengeschichte (v.li.): Thorsten Garbitz, Christopher Willing, Wiebke Marschner, Dierk Glitzenhirn, Holger Wagemann (Klavier) und Erkan Koç in der Synagoge Felsberg. Foto: Ulrich Köster
„Traumata entstehen durch Ereignisse mit existenziellen Bedrohungsfaktoren“, so der Experte, „werden sie nicht aufgearbeitet, bleibt man im Stressmodus“, beschrieb er die Folgen. Dieser Stress könne auch bei den Nachfahren anhalten, das gelte für die Nachfahren von Opfern wie von Tätern: „Wie ein Kind eine Bombardierung erlebt oder eine Frau sexualisierte Gewalt, ist unabhängig von Warschau oder Berlin.“
Durch Hamas-Überfall reaktiviert
Im zweiten Teil der Veranstaltung berichteten Menschen von ihren eigenen Erfahrungen mit traumatischen Erlebnissen und den Auswirkungen über Generationen hinweg. Den Anfang machte Wiebke Marschner aus Michelstadt. Ihr Trauma hat mit der Nazi-Vergangenheit ihres Großvaters zu tun.
„Erst als wir in der Schule das Dritte Reich durchgenommen haben, wurde ich für das Thema sensibilisiert und begann mich für die Opfer zu interessieren“, erzählte Marschner. „Dein Vater war kein stiller Teilnehmer“, habe sie ihre Mutter konfrontiert, nachdem sie im Keller Briefe von ihm gefunden hatte. „Ich spreche heute das erste Mal darüber – eigentlich macht es einen sprachlos“, sagte sie mit stockender Stimme. Am Tag des Überfalls der Hamas auf Israel sei sie wieder aktiv geworden, berichtete sie weiter von ihrem Engagement gegen Antisemitismus.
Bruder hatte mehr Liebe bekommen
Erkan Koç, Lehrer aus Hannover und Vorstandsvorsitzender des Forums Dialog Niedersachsen e.V., ließ die Zuhörenden ebenfalls an seiner Geschichte teilhaben. Er wurde in Köln geboren und wuchs mit seinem zwei Jahre älteren Bruder auf, der gehörlos auf die Welt gekommen war. „Meine Mutter musste Deutsch und zusätzlich die Gebärdensprache lernen – gleichzeitig ging sie natürlich arbeiten“, erzählte Koç von der schwierigen Situation in seiner Kindheit. Nach einer Krebsdiagnose begann er tiefer in die persönliche Geschichte zu schauen und ihm wurde bewusst, „dass mein Bruder aufgrund seiner Behinderung viel mehr Liebe bekommen hat als ich“, sagte der 33-Jährige. Erst in einer Therapie habe er vieles gelernt und so er auch seiner Mutter verzeihen können.
Mutter hatte das Judentum verraten
Als Dritter stellte Christopher J. Willing, Mitbegründer und Vorsitzender der liberalen Jüdischen Gemeinde Emet weSchalom, die wechselhafte Geschichte seines Lebens vor. „Ich selbst hatte zwar jüdische Wurzeln, doch erst mit 24 Jahren bin wirklich zum Judentum gekommen“, blickte der 61-Jährige in seine eigene Biografie. Seine Großmutter sei dem Holocaust entkommen, weil sie einen Christen geheiratet habe. „Ich habe nur überlebt, weil ich das Judentum verraten habe“, zitierte Willing seine Mutter. Er habe einen Kurs besucht, irgendwann sei seine Mutter mitgegangen, und gemeinsam seien sie aktiv ins Judentum zurückgekehrt, so die Entwicklung. „Sie begann Bücher zu schreiben und Vorträge zu halten“, fügte er hinzu.
(Ulrich Köster | red)



